Der Wortmaler las auf einem Kalenderblatt folgenden Spruch:
Ich kann keinen Spagat. Aber bislang gab es keinen Moment, an dem ich dachte:
Jetzt könnte nur noch ein Spagat helfen.
Nun, auch der Wortmaler kann keinen Spagat. Allenfalls vielleicht eine Grätsche und selbst die nicht besonders gut. Vielmehr verspürt er beim kleinsten Versuch eines Spagates oder einer Grätsche sofortiges heftiges Ziehen an und in den Schenkeln sowie im Schritt. All das wiederum verursacht Schmerzen, die länger anhalten und deshalb ist es für den Wortmaler ratsam, weder einen Spagat noch eine Grätsche zu machen oder gar zu versuchen. Jedenfalls nicht und niemals körperlich.
Vermutlich ist es uns Männern, schon rein anatomisch, nicht vergönnt einen eleganten Spagat hinzulegen. Eine Grätsche schon eher. Aber auch die nur mit entsprechender Übung. Da der Wortmaler über dererlei nicht verfügt, lässt er auch dies.
Vielmehr ist er, der Wortmaler, im mentalen Spagat geübt. Er kann sowohl nach vorn als auch nach hinten denken. Und wenn er die Grätsche noch hinzunimmt, dann auch zur Seite. Nur beim oben und unten bleibt es kompliziert.
Er hat gelernt, dass es weitaus weniger schmerzhaft ist, um die Ecke zu denken, über den Tellerrand zu schauen, das dahinter und das davor zu betrachten und das daneben als ebenfalls wichtig anzusehen. Sieht alles gut aus, kann es losgehen. Stehen aber Hindernisse im Weg, so müssen sie behoben werden. All das funktioniert nur beim mentalen Spagat.
Wenn auch ein Spagat oder eine Grätsche mit entsprechender Abschlusspose sehr viel eleganter aussehen, so ist und bleiben beide dennoch nur Momentaufnahmen. Für einen Bruchteil einer Zeit mögen sie ansprechend sein, aber auch nur für genau diesen einen kleinen Moment.
Währenddessen sind die geistigen Varianten sehr viel nachhaltiger. Sind sie aufwändiger, zeitintensiver und selten bis nie wiederholbar. Da ist nichts mit Schwupp, Pose und Applaus. Das ist langwierige schwere Arbeit, benötigt Disziplin, Ausdauer und viel Feingefühl sowie Mitgefühl. An das Ergebnis wird man sich erinnern. Zumeist gern. Es bleibt als geistige Vorstellung haften. Als wäre aus einem wegrollenden Kreis, ein liegenbleibenes Quadrat geworden.
Insofern freut sich der Wortmaler, dass er keinen Spagat kann, den er ohnehin nur mit schmerzverzehrtem Gesicht in der Endpose präsentieren würde und, nebenbei bemerkt, nie wieder ohne fremde Hilfe hoch käme.
AW 08-12-2020